Politik
Buchbesprechung: Martin Steinhagen - Rechter Terror
Mord an Walter Lübcke
Gdenken vor dem Kasseler Regierungspräsidium (Quelle: heldmann.photography)
GDN -
Im April 2021, rund 21 Monate nach dem Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Dr. Walter Lübcke, erschien das erste Buch, das sich mit dem Menschen Walter Lübcke, seinem gewaltsamen Tod, dem Täter und dem Netzwerk hinter ihm befasst. Ein Buch, dessen Lektüre lohnt.
Martin Steinhagen, der Autor dieses Werks, war bereits kurz, nachdem der inzwischen verurteilte Stephan Ernst als Tatverdächtiger verhaftet worden war, in Kassel. Er zeigte sich schon damals als profunder Kenner der rechtsextremen Szene in und um die nordhessische Großstadt, ihrer Akteure und Strukturen. Der Frankfurter Journalist hatte in der Folgezeit die Ergebnisse seiner Recherchen in der “Zeit“ bzw. “Zeit online“ aufbereitet und wirkte maßgeblich an zwei TV-Dokumentationen zu dem Thema mit. Nun hat er mit dem Buch “Rechter Terror“ den Mord an dem nordhessischen Regionalpolitiker eingeordnet in die lange Geschichte rechtsextremen Terrors in Deutschland und die Verflechtungen des Täters und seiner Unterstützer in diese Strukturen beschrieben.
Martin Steinhagen beschränkt sich dabei nicht auf die Zeit zwischen dem offensichtlichen Auslöser des letztlich zur Tat führenden Hasses von Ernst auf Dr. Lübcke, eine Bürgerinformation in der Gemeinde Lohfelden zu einer dort am nächsten Tag ihren Betrieb startenden Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete. Ernst und sein Mitangeklagter Markus H. nahmen gemeinsam daran teil und stellten noch am gleichen Abend ein kurzes Video online, in dem ein aus dem Zusammenhang gerissener Redebeitrag Walter Lübckes zum Beginn einer Welle von Hass und Drohungen gegen den Regierungspräsidenten wurde. Steinhagen geht vielmehr zurück bis zu den Anfängen der Bundesrepublik Deutschland und dem rechten Terror in diesem Land.
Um zu verstehen, wie es zu der Tat kam, sind die Biografie des Täters und seine Gewalttaten schon seit seiner Jugendzeit ein wesentlicher Aspekt. Doch der Blick allein darauf führt schnell zu der Einzeltätertheorie, der die Ermittlungsorgane bei anderen Taten aus dem rechtsterroristischen Spektrum allzu gerne anhängen. Martin Steinhagen hingegen zeigt auf, dass die Strukturen, Netzwerke und persönlich-politischen Beziehungen eine entscheidende Bedingung dafür sind, dass es zu solchen Terrortaten kommt. Und dass Stephan Ernst über viele Jahre, auch als er dem Hessischen Verfassungsschutz als “abgekühlt“ galt, sich in diesen Strukturen bewegt hat.
Diese Strukturen gab und gibt es auch in Kassel und dem Umland. Dazu muss man nicht nur Nordhessen, sondern auch das westliche Thüringen und Ostwestfalen zählen. Strukturelle und personelle Verbindungen gehen noch weiter, eine besondere Achse bestand lange Zeit zwischen Dortmund und Kassel. Deswegen verlangt auch die bisher ungeklärte Frage nach dem Netzwerk hinter den innerhalb von zwei Tagen erfolgten Morden der “NSU“-Terroristen in Dortmund und Kassel nach wie vor der Aufklärung. Dass die beiden Haupttäter in beiden Städten ihre Opfer nicht zufällig fanden, sondern lokale Unterstützer und Informanten hatten, ist mehr als wahrscheinlich. Offen bleibt dabei, ob eine sorgfältige Aufklärung dieser Strukturen spätestens nach dem Auffliegen des “NSU“ den Mord an Walter Lübcke nicht sogar hätte verhindern können. Denn das personelle Netzwerk um Ernst taucht auch auf, wenn man genauer auf die Strukturen schaut, die beim Mord an Halit Yozgat eine Rolle gespielt haben könnten. Auch dazu äußert sich Martin Steinhagen in seinem Buch “Rechter Terror“.
Anders, als es eine Gruppe in Kassel behauptet, die sich “Antifaschistischer Mai“ nennt, ist und war Kassel seit Bestehen der Bundesrepublik nie ein “Symbol von rechtem Terror und Rassismus“. Damit wird die rechtsextreme Szene völlig unnötig und unberechtigt aufgewertet und zu einem Popanz gemacht, der wohl nur den eigenen Aktivismus rechtfertigen soll. In Kassel leben Menschen aus rund 170 Nationen und vielfältigen Kulturkreisen ganz überwiegend friedlich und mi gegenseitigen neben- und miteinander. Wie in jeder Stadt dieser Größe gibt es auch in Kassel Kriminalität, an deren Taten natürlich auch Personen unterschiedlicher Nationalitäten beteiligt sind. Aber rassistisch und rechtsextremistisch konnotierte Gewalt ist die Ausnahme, auch wenn es sie gibt. Die Morde an Halit Yozgat und Walter Lübcke sind erschütternd, aber kein Ausdruck eines besonderen Klimas von “rechten Terror und Rassismus“ in der Stadt oder Region.
Ja, es gab und gibt in Kassel eine kleine rechtsextreme Szene, die und deren Akteure aber überwiegend bekannt sind. Martin Steinhagen benennt viele dieser Strukturen und beschreibt ihre Verflechtungen bundesweit und regional. Neben den im Buch beschriebenen Akteuren gibt es auch die rechtsextremen Burschenschaft “Germania“, die in ihren beiden Häusern in Wolfsanger immer mal wieder versucht, ideologische Kaderbildung zu betreiben. Es gab das “Thule Seminar“, dass lange vor Kubitscheks “IfS“ als intellektuelle Denkfabrik der “Neuen Rechte“ und Bindeglied zu dieser in Frankreich eine Bedeutung hatte. Aber weder diese noch die dumpf-nazistische Gruppe “Sturm 18“ um Bernd Tödter und ihre Gewalttaten haben in der Zivilgesellschaft Kassels jemals Resonanz gefunden. Das gilt auch für den Kasseler Ableger von “Pegida“, der sich “Kagida“ nannte und nie mehr als eine mittlere zweistellige Zahl, darunter eben auch die bekannten Rechtsextremen und Hooligans, auf die Straße bringen konnte. Allerdings hat “Kagida“-Gründer Michael Viehmann bei der Bürgerinformation in Lohfelden eine unrühmliche Rolle gespielt und so seinen, nicht justiziablen, Beitrag zum späteren Mord an Walter Lübcke geleistet. Auch darauf geht Steinhagen ein.
“Mindestens 187 Menschen haben allein seit 1990 ihr Leben verloren, weil rechte Täter sie zu Zielen ihres Hasses machten. Ihre Namen sind, soweit bekannt, im Umschlaginneren dieses Buches dokumentiert.“ So Martin Steinhagen in seinem Buch. Eine Anmerkung: Leider ist die wichtige Namens- und damit Erinnerungsliste der Opfer des rechten Terrors im Ebook von “Rechter Terror“ mangels Umschlags nicht enthalten. Bis zum Mord an Walter Lübcke hat die Politik diese Taten allerdings als “Einzelfälle“ gerne verdrängt und vergessen. Es ist vielen lokalen Initiativen, wie zum Beispiel in Kassel der “Initiative 6. April“, die das Gedenken an Halit Yozgat gemeinsam mit dessen Familie aufrechterhält, und Journalisten, wie denen, die hinter der Langzeitrecherche von u.a. “Zeit online“ stehen, zu verdanken, dass die Opfer nicht vergessen und die Strukturen, aus denen die Täter stammen, nicht ungestört bleiben. Insofern war der Mord an Walter Lübcke eine Zäsur, weil dadurch auch das Augenmerk solcher Politikerinnen und Politiker auf den Rechtsextremismus und seine Täter gelenkt wurde, die bis dahin lieber anderswohin geschaut hatten.
In Kassel selbst hatte der Mord zu einem deutlichen Signal der Stadtgesellschaft geführt. Bei zwei Veranstaltungen, einer Kundgebung vor dem Kasseler Regierungspräsidium und einer Demonstration anlässlich eines provokativen Aufmarsches einer kleinen Gruppe Rechtsextremer, überwiegend aus NRW und Mittelhessen, waren jeweils Zehntausend und mehr Bürgerinnen und Bürger auf den Straßen, um für Demokratie, Respekt und eine offene Gesellschaft ohne Hass und Ausgrenzung zu demonstrieren. Eine Initiative mit dem Slogan “Offen für Vielfalt - Geschlossen gegen Ausgrenzung“ ist in der Stadt inzwischen dauerpräsent. Und, auch das ist ein durchaus angenehmer Effekt, die rechtsextreme Szene hat sich zum Teil verzogen, zum Teil zurückgezogen. Einige der wichtigen Akteure haben Kassel inzwischen verlassen und wohnen u.a. in Thüringen. Andere haben, nicht zuletzt auch in Folge des Corona-Lockdowns, ihre Treffpunkte, wie in einer einschlägigen Kneipe unweit des Kasselers Rathauses und bei den Fußballspielen des Regionaligavereins KSV Hessen Kassel verloren. Dass sie derzeit den Kopf nicht rausstrecken, heißt nicht, dass es sie nicht mehr gibt. Aber eines dürfte auch den verbohrtesten Rechtsextremisten klar geworden sein: In Kassel sind sie isoliert und finden keinen Resonanzboden. Trotzdem, oder gerade deshalb, ist das Buch Martin Steinhagens auch den Bürgerinnen und Bürgern Kassels zu empfehlen. Denn mit der Verurteilung von Ernst und dem - für viele unbefriedigenden - noch nicht rechtskräftigen Urteil gegen Markus H. ist weder der Mord am früheren Regierungspräsidenten Walter Lübcke in allen Facetten aufgeklärt, noch die Gefahr weiterer rechtsextremer Taten gebannt - nicht in Kassel, nicht in Hessen und nicht in Deutschland. Die Zivilgesellschaft muss weiter aufmerksam bleiben. Warum das so ist, dürfte nach der Lektüre des gut geschriebenen und leicht lesbaren, aber gleichwohl hochinformativen Buchs jeder Leserin und jedem Leser klar sein.
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