Politik
Wie ich 9/11 erlebte
Eine persönliche Rückbesinnung
9/11 Memorial (Quelle: heldmann.photography)
GDN -
Heute ist es zwanzig Jahre her, dass offensichtliche islamistische Terroristen vier Flugzeuge in den USA entführten, um sie als Massenvernichtungswaffen zu verwenden. Wer das damals am TV erlebte, wird sich wohl immer an diesen Tag erinnern. So geht es mir jedenfalls.
Ich war um die Jahrtausendwende ein ziemlich guter Speedskater, in Deutschland über mehrere Jahre unter den TOP 100 der Rangliste. Und da ich auch Mitglied im Empire Skate Club New York und dessen Empire Speed Team war, startete ich auch mit einer US-Lizenz. Im Jahr 2000 nahm ich erstmals an den US-Marathonmeisterschaften im Prospect Park in Brooklyn, NYC teil. Auf dem anspruchsvollen etwa vier Kilometer langen Rundkurs mit mehreren Anstiegen, die entsprechend oft zu meistern waren, schaffte ich in dem Jahr – für mich überraschend – den Sieg in meiner Altersklasse. Ein Jahr lang durfte ich mich US-Altersklassenmeister auf der Marathondistanz nennen. Klar, dass ich diesen Titel ein Jahr später an gleicher Stelle wieder verteidigen wollte.
Nachdem ich bereits 1997 gemeinsam mit einer damaligen Freundin im „To Of The World“, der Bar oben im Nordturm des WTC gewesen war, nutzte ich die Gelegenheit 2000, endlich auch die offene Aussichtsplattform auf dem Dach des Südturms zu besuchen. Es war ein schöner Spätsommertag mit einem wolkenlosen, blauen Himmel, als ich den unvergleichlichen Blick über New York City bis weit nach New Jersey und in Richtung Upstate New York genoss. Natürlich konnten weder ich noch all die anderen, die ebenfalls dort waren, was auf den Tag genau passieren würde. Dass ich tatsächlich am 11. September 2000 mit dem Expressaufzug zum Dach des WTC gefahren war, habe ich erst viel später realisiert, als mir das kleine Ticket mit Datum und Uhrzeit wieder in die Hände fiel.
Nun also 2001. Die US-Meisterschaften sollten am 16. September ausgetragen werden. Ich hatte den Flug nach New York für den 9.9., einen Sonntag, gebucht und wollte zwölf Tage bleiben. Damals arbeitete ich als Organisationsentwicklungsberater und Moderator. Wenige Tage vor dem geplanten Abflug erreichte mich eine Anfrage, eine Workshopreihe zu moderieren. Das Problem dabei war, dass der erste Termin am 11. September stattfinden musste. Ich war hin- und hergerissen, entschied mich dann letztlich aber für den lukrativen Auftrag, zumal die Veranstalter mir zusicherten, die Umbuchungskosten für meinen Flug zu übernehmen. Also buchte ich auf den 13. September um, auch die Unterkunft im East Village konnte ich auf den neuen Termin ändern. Weil das alles recht kurzfristig passierte und ich mich bei Freunden und Kollegen bereits abgemeldet hatte, dachten diese natürlich, ich wäre wie geplant am Sonntag geflogen.
Stattdessen fuhr ich morgens am 11.9. mit dem Zug nach Gießen, moderierte die Veranstaltung und setzte mich am frühen Nachmittag wieder in den Zug zurück nach Norden. Etwas müde vom frühen Aufstehen und der doch anstrengenden Moderation döste ich vor mich hin, bis mich mein Mobiltelefon weckte. „Was bin ich froh, dass ich dich erreiche. Ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte ohne weitere Begrüßung der Kollege am anderen Ende der Verbindung. Ich: „Ja sicher. Ich bin nur etwas müde.“ – „Ein Glück! Bist du weit genug weg vom World Trade Center?“ – „Ich bin im Zug von Gießen nach Hause. Was ist denn los?“ Dann erzählte er mir, dass vor einigen Minuten ein Flugzeug in das WTC geflogen wäre. Und während wir telefonierten, rief er plötzlich: „Ach du Sch…., jetzt ist noch eins in den anderen Turm geknallt!“. Um meine Ruhe war es dann natürlich geschehen. Damals konnte man noch nicht auf dem Mobilphone fernsehen, also wollte ich nur möglichst schnell nach Hause und den Fernseher anmachen. Dort sah ich dann in Endlosschleife all die furchtbaren Bilder. Der Fotograf in mir dachte zwar kurz an die verpasste Gelegenheit für historisch einmalige Aufnahmen, aber letztlich war ich froh und dankbar, sicher in meiner kleinen Wohnung in Deutschland zu sitzen.
Der geplante Flug fiel ebenso aus wie meine Titelverteidigung, obwohl die Veranstaltung stattfand. Schon da zeigte sich die unbeugsame Willenskraft vieler New Yorker, sich nicht von Terroristen in die Knie zwingen lassen wollten. Deswegen zogen meine Vereinsfreunde das Rennen durch, das zwar keinen sportlichen Wert hatte, aber eine enorme emotionale Bedeutung im Sinne des „United we stand!“ Sobald es die Bedingungen erlaubte, wollte ich nach New York reisen, meine Freunde treffen und mir selbst ein Bild machen. Im November war es dann soweit. Gemeinsam mit meiner damaligen Freundin mietete ich ein Apartment in Hells Kitchen, das einer gewissen Madonna Louise Ciccone gehörte. Gleich der erste Weg führte mich Downtown. „Ground Zero“, wie die Gegend, wo das WTC einst stand, nun genannt wurde, war weiträumig abgesperrt. Trotzdem konnte man Teile der Ruinen sehen, noch immer lag der weiße Staub an einigen Stellen. An den Zäunen auf der West- und Ostseite hingen bedrückende Fotos mit Suchmeldungen, es lagen tausende Kuscheltiere, Blumengebinde und anderes mit emotionalen Botschaften dort. Dies war ein Besuch in New York, der so anders war, als alle anderen vorher und nachher. Und er sollte auch noch dramatisch enden.
Der Rückflug war für den 12.11. geplant. An diesem Tag wurde der Veterans Day begangen, ein Feiertag, an dem die Veteranen der US-Army geehrt werden und der, fast exakt zwei Monate nach 9/11, unter ganz besonderen Vorzeichen stand. Am Morgen unseres geplanten Rückreisetags saßen wir in einem Diner zum Frühstück. Auf einem der obligatorisch laufen TV-Screens sah man Bilder von einem Flugzeugabsturz, darunter las ich etwas von Santo Domingo. Der Fernseher war stumm geschaltet und wir widmeten ihm kaum Aufmerksamkeit. Auf dem kurzen Weg zurück wunderten wir uns zwar über die tieffliegenden Militärjets über den Hochhäusern, verbuchten sie jedoch unter dem Veterans Day. Kurz darauf zurück im Apartment kam noch ein Skaterfreund vorbei, um mir ein Vereinstrikot zu bringen. Er bat darum, das Telefon im Apartment nutzen zu dürfen, um seine Schwester an der Westküste anzurufen. Aus dem Telefonat war zu entnehmen, dass er ihr erklärte, ihm und seinen Eltern ginge es gut, es sie nicht passiert.
Auf die Frage, was den los sei, war er etwas verwundert. Ob wir nichts vom Flugzeugabsturz mitbekommen hätten. „Doch“, meinte ich, „aber das ist doch in der Karibik passiert.“ Mein Freund klärte das Missverständnis schnell auf. Der Flug sollte in die Karibik gehen, abgestürzt war der Airbus von American Airlines aber in Rockaway, dort wo er und seine Familie wohnte. In Anbetracht des Datums und des besonderen Tages wurde sofort höchste Terroralarmstufe über New York verhängt. Die Folge: Manhattan war abgeriegelt, niemand kam rein oder raus, der Flugverkehr von JFK war eingestellt. Zum Glück konnten wir das Apartment noch den ganzen Tag nutzen. Gegen Abend, als sich wohl bestätigt hat, dass es sich nicht um einen befürchteten erneuten Terroranschlag handelte, wurden die Verbindungen von Manhattan in die anderen Stadtteile wieder geöffnet. Die Sicherheitsvorkehrungen am Airport waren enorm, die erste Kontrolle erfolgte bereits in einem Ring weit vor den Terminals, dann dort noch mehrere weitere. Es dauerte lange, bis wir endlich im Abflugbereich waren. Doch auch dann dauerte es noch Stunden bis zu Check-In. Dafür hatten wir einen guten Blick auf die Absturzstelle, wo noch immer vereinzelt Flammen und unzählige blinkende rote Lichter zu sehen waren. Nicht unbedingt das, was man so braucht, wenn man auf seinen eigenen Abflug wartet.
Später war ich noch einige Mal in New York und konnte beobachten, wie die Wunde auf der Südspitze Manhattans nach und nach geschlossen wurde. Heute steht dort mit dem „One World Trade Center“ ein noch beeindruckender Turm, der angeblich auch gegen solche Terroranschläge geschützt sei. Hoffen wir, dass dies nie bewiesen werden muss. Am eindrucksvollsten finde ich das „9-11 Memorial“. Zwei rechteckige Vertiefungen finden sich als Umrisse der beiden Türme genau dort, wo diese einst standen. Dort läuft beständig Wasser nach unten und scheint in einem bodenlosen Loch zu verschwinden. Im Rand der beiden Brunnen sind die Namen der 2753 unmittelbaren Opfer, soweit sie identifiziert werden konnten. Aber tatsächlich hat der Angriff weit mehr Opfer gefordert. Geschätzt 24.000 Menschen sind in Folge der giftigen, asbesthaltigen Stäube an Krebs erkrankt, viele davon sind inzwischen gestorben, viele leiden noch heute, zwanzig Jahre später an den Folgen. Noch ein Grund, warum ich mich sehr glücklich schätzen kann, nicht wie ursprünglich geplant am 9.9.2001 nach New York geflogen zu sein. Die brennenden und einstürzenden Wolkenkratzer bleiben trotzdem auf ewig in meiner Erinnerung.
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