Kultur

AMOK (nach Emmanuel Carrère) am Staatstheater Kassel

Lügen und inszenierte Realitäten


(Quelle: Isabel Machado Rios)
(Quelle: Isabel Machado Rios)
GDN - Am vergangenen Samstag feierte das Stück „Amok“ im TiF – Theater im Fridericianum Premiere. Jan-Christoph Gockel gelingt eine stimmige Inszenierung, die verschiedene Genres verbindet und einen unterhaltsamen, kurzweiligen und lohnenden Theaterabend bietet.
Wer kennt das Gefühl nicht? Das Arbeitsgebiet, dessen Ausübung einem durch eine langjährige, erfolgreich abgeschlossene Ausbildung sowie leistungsorientierte Beförderungen ermöglicht wurde und das man seit Jahren ohne gewichtige Beanstandungen ausübt, löst Selbstzweifel aus. Trotz aller Belege, die das Gegenteil untermauern, bleiben Zweifel an der eigenen Kompetenz bestehen und unterschwellige Angst entsteht. Die eigene Inkompetenz erscheint derart offenkundig, dass es nur eine Frage der Zeit sein kann, bis die Umwelt diese endlich bemerkt und der vermeintliche Schwindel wie ein fragiles Kartenhaus in sich zusammenfällt.
Wie ausgeprägt muss die Angst des Jean-Claude Romand gewesen sein und möglicherweise hat diese ihn zu einer nur schwer nachzuvollziehenden, barbarischen Tat getrieben. In den frühen Morgenstunden des 9. Januar 1993 erschießt er, nachdem er ihnen Frühstück aus Schokopops und Milch zubereitet hat und anschließend mit ihnen Zeichentrickvideos der drei kleinen Schweinchen geschaut hat, seine Kinder Antoine und Caroline. Seine Frau Florence hatte er zuvor bereits im gemeinsamen Schlafzimmer erschlagen.
Anschließend fährt er zu seinen Eltern und erschießt im Anschluss an ein gemeinsames Mittagessen auch diese sowie den geliebten Familienhund, von dem er stets ein Foto bei sich trägt. Nach einem weiteren, diesmal misslungenen Mordversuch an seiner Geliebten steckt er sein Haus mit den Leichen seiner Frau und der Kinder in Brand und versucht sich halbherzig das Leben zu nehmen. Doch er überlebt und wird zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Diese Ereignisse haben sich tatsächlich zugetragen. Sie sind, im Gegensatz zum Leben des Mörders, das auf einem gigantischen Lügenkonstrukt basiert, Realität.
Der französische Schriftsteller Emmanuel Carrère war von diesem vorgeblichen Kriminalfall und der menschlichen Tragödie, die er zu Recht vermutete, derart erschüttert und zugleich fasziniert, da ihm das Böse selbst am Werk zu sein schien, dass er einen Briefwechsel mit dem inhaftierten Romand unterhielt und nach sechs Jahren Arbeit im Jahr 2000 den auf dem Fall basierenden Roman "Amok" veröffentlicht hat.
Doch trotz intensiver Recherche und Hingabe gelang es Emmanuel Carrère nicht, die Tat verständlich zu machen und genau diese Tatsache scheint wiederum Regisseur und Autor Jan-Christoph Gockel, der den Roman gemeinsam mit Dramaturgin Patricia Nickel-Dönicke bearbeitet hat, zu interessieren. Durch fortwährende Rollen- und Perspektivwechsel versucht das Stück der ersehnten Erklärung näherzukommen, ohne diese je erreichen zu können und zu wollen.
18 Jahre lang hatte niemand Verdacht geschöpft und erkannt, dass Jean-Claude Romands Leben eine Lüge und er weder Arzt war noch bei der Weltgesundheitsbehörde WHO arbeitete. Anstatt wie vorgegeben morgens zur Arbeit nach Genf zu fahren, vertrieb er sich die Zeit mit Waldspaziergängen, in Cafés oder Hotelzimmern. Sein mitunter luxuriöses Leben finanzierte er sich mit von Freunden und Verwandten veruntreutem Geld.
Sein Medizinstudium hatte Romand nicht abgeschlossen, da er eine erforderliche Klausur mehrfach versäumte. Seinem Umfeld gegenüber behauptete er, die besagte Prüfung problemlos bestanden zu haben. Doch diese vermeintlich geringfügige Lüge zog größere nach sich und aus dem in der Realität erfolglosen Studenten wurde ein international angesehener Mediziner. Als das Lügengebäude einzustürzen drohte, entwickelte sich der Hochstapler Romand zum fünffachen Mörder an der eigenen Familie. Die unfassbare Geschichte hat sich tatsächlich 1993 in einem kleinen französischen Ort nahe der Schweizer Grenze zugetragen.
Jan-Christoph Gockel nutzt die Absurdität und das bis zu den Morden durchaus vorhandene Komödienpotenzial der Vorgänge bei seiner Inszenierung, die das ungeheuerliche Verbrechen weder verharmlost noch undifferenziert nacherzählt, sondern reflektiert und kommentiert. Der Regisseur spielt dabei raffiniert mit der Bühnenrealität, die schließlich - ähnlich wie das Leben Romands - eine inszenierte Realität und Illusion ist.
Quelle: Isabel Machado Rios
Sämtliche Figuren werden von den beiden perfekt miteinander harmonierenden Schauspielern Clemens Dönicke und Dietmar Nieder verkörpert, wobei diese sich wiederholt aus ihren Rollen lösen. Romand wird von beiden gespielt, sodass die verschiedenen Seiten dieses rätselhaften Charakters verdeutlicht werden. Er ist der gewitzte, selbstsichere und brutale Täter sowie das verletzliche, feige Opfer in einer Person.
Seine Lebenslüge wird zu seinem Gefängnis, aus dem es für ihn kein Entrinnen mehr gibt. Als sein Konstrukt zusammenzubrechen droht, löscht er seine komplette Familie aus, um ihr, so erklärte er später, den Schmerz der Enttäuschung zu ersparen, doch womöglich auch um seine Identität zu schützen, denn in dem Maße, wie sein Umfeld ihm geglaubt hat, hat er auch an sich selbst geglaubt.
Die Wahrheit über Romands Motive hat Schriftsteller Emmanuel Carrère trotz aller Mühen nicht entschlüsseln können. Auch werden wir wohl nie umfassend verstehen, warum dieser eines Tages begonnen hat, ein Leben zu erfinden, statt eines zu leben.
Doch bei allem Unverständnis kommt man als Zuschauer nicht umhin, den kleinen Lebenslügner auch in sich selbst zu entdecken. Gibt es nicht in unser aller Leben Sachverhalte, die wir nicht hinterfragen wollen? Und hat nicht jeder schon einmal die Erfahrung machen müssen, dass eine zunächst unbedeutend erscheinende Notlüge weitere Lügen nach sich zieht? Baut nicht jeder Mensch eine Fassade auf, die ihn zumindest situativ in einem besonderen Licht erscheinen lassen soll?
Quelle: Isabel Machado Rios
Bemerkenswert entspannt verbindet Jan-Christoph Gockel in seiner Inszenierung verschiedene Genres und findet die angemessene Balance zwischen Komik und Tragik. Die beiden in ihren Rollen immerfort wechselnden Schauspieler sowie die Einbindungen von klug gewählter Musik, Fotos, Videos, gesprochenen und geschriebenen Texten hätten leicht überfrachtet und aufgesetzt wirken können. Doch dies ist nicht der Fall. Alles fügt sich mit einer scheinbaren Leichtigkeit in die Inszenierung ein, sodass ein unterhaltsamer, kurzweiliger und lohnender Theaterabend entsteht.
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