Kultur
Performance-Kollektiv United Cowboys hinterfragt Tschaikowsky-Klassiker
„Der Nussknacker“ am Staatstheater Kasse
(Quelle: Sylwester Pawliczek (MACHMA MACHMA))
Bei meinem unlängst vergangenen Spanienurlaub bemerkte ich wiederholt Reisende, die sich mit Vorliebe selbst zu fotografieren schienen und in mir die Frage aufwarfen, welche Qualitätssteigerung diese sich für ihr Foto erhoffen, indem sie ihr Antlitz vor die historischen Mauern der Alhambra, den schroffen Felsvorsprüngen der Sierra Nevada oder den fröhlich springenden Delfinen in der Straße von Gibraltar ins Bild setzen. Handelt es sich um eine reine Modeerscheinung, habe ich es mit lauter Influencern zu tun, steht das Streben nach Selbstvergewisserung im Vordergrund oder purer Narzissmus?
„Seit wann nehmen wir unser eigenes Bild wichtiger als den Hintergrund?“, ist eine der vielen Fragen, die an diesem Abend auf der Bühne des Staatstheaters Kassel formuliert werden.
Bereits beim Betreten des Zuschauerraums treffen die Besucher:innen in Bühnennähe auf in schlichte Decken gehüllte Personen, die wie einst Maria und Josef und dieser Tage erneut Menschen in der Region Palästina auf der Suche nach Schutz und Güte sind, während auf der Bühne Tänzer:innen mit überdimensionalen, auf dem Rücken getragenen Walnüssen sich schneckengleich über den Boden bewegen.
Bereits beim Betreten des Zuschauerraums treffen die Besucher:innen in Bühnennähe auf in schlichte Decken gehüllte Personen, die wie einst Maria und Josef und dieser Tage erneut Menschen in der Region Palästina auf der Suche nach Schutz und Güte sind, während auf der Bühne Tänzer:innen mit überdimensionalen, auf dem Rücken getragenen Walnüssen sich schneckengleich über den Boden bewegen.
Was im Anschluss erfolgt, macht unmissverständlich deutlich, dass an diesem Abend Erwartungen infrage gestellt werden, die mit dem Nussknacker verbundenen Weihnachtsgefühle weniger im Vordergrund stehen und das Stück als traditioneller Ballettabend auf den Kopf gestellt wird. Die Tänzer:innen treten an den Bühnenrand, verbeugen sich und nehmen freudestrahlend den imaginären Applaus, der doch erst am Ende des Abends tatsächlich ertönen wird, entgegen.
Neben einer Vielzahl von Tänzer:innen steht auch die Schauspielerin Katharina Brehl an diesem Abend auf der Bühne, führt als Protagonistin durch die Abfolge von rastlosen Bühnenaktivitäten, macht sich Gedanken über das Dasein und formuliert Fragen wie etwa als Einstimmung auf die kommenden 90 Minuten: „Könnte es sein, dass wir verloren sind… vielleicht ein bisschen?“
Das Ballett „Der Nussknacker“, basierend auf der Komposition von Peter Iljitsch Tschaikowskys, wurde 1892 in Sankt Petersburg uraufgeführt.
Rund 130 Jahre später vollendet die Tanzsparte des Staatstheaters Kassel ihre Tschaikowsky-Trilogie, bei der Ballettklassiker aus einer zeitgenössischen Sicht interpretiert wurden, mit einer Produktion des niederländischen Performance-Kollektivs United Cowboys.
Rund 130 Jahre später vollendet die Tanzsparte des Staatstheaters Kassel ihre Tschaikowsky-Trilogie, bei der Ballettklassiker aus einer zeitgenössischen Sicht interpretiert wurden, mit einer Produktion des niederländischen Performance-Kollektivs United Cowboys.
Der Nussknacker gilt gegenwärtig als ein inhaltlich umstrittenes, gar rassistisches Stück und wurde vor zwei Jahren vom Staatsballett Berlin aufgrund der Darstellung chinesischer und orientalischer Tänze, die zurecht als stereotypisch angesehen wurden, vom Spielplan genommen. Die Tilgung eines Klassikers aufgrund neuer Sichtweisen ist jedoch ein fragwürdiger Schritt. Vielversprechender ist es, sich mit dem Stoff aus heutiger Sicht zu befassen, wie es die United Cowboys tun und in ihrer Choreografie Individualität, wie sie in zahlreichen Soli vorrangig im ersten Teil des Abends erfolgen, gängigen Stereotypen konsequent entgegensetzen.
Pauline Roelants sorgt neben zwei Livemusikern während des Abends an ihrem am hinteren Bühnenrand platzierten Mischpult für eine aus vom Staatsorchester Kassel eingespielten Tschaikowskimelodien, elektronischer Musik sowie Alltagsgeräuschen bestehenden Klangkulisse, mit der die Spannung über 90 Minuten enorm hochgehalten wird.
Dieses gelingt auch dem vielköpfigen Ensemble, das in unterschiedlichsten Konstellationen akrobatisch sowie anmutig ausdrucksstarke Bilder entstehen lässt und mit tänzerischem, aber auch schauspielerischem Können das Publikum zu begeistern weiß.
Dieses gelingt auch dem vielköpfigen Ensemble, das in unterschiedlichsten Konstellationen akrobatisch sowie anmutig ausdrucksstarke Bilder entstehen lässt und mit tänzerischem, aber auch schauspielerischem Können das Publikum zu begeistern weiß.
Besonders herausragend sind die vom französischen Bildhauer Auguste Rodin inspirierten, enorm kraftraubenden Duette, während derer hochästhetische Bewegungen in Zeitlupe erfolgen und durch die den Zuschauern die seltene Möglichkeit eröffnet wird, die tänzerischen Formen genauestens zu verfolgen sowie das anmutige Pas de deux von Kiley Dolaway und Shafiki Sseggayi.
Der Tanzabend bereitet beim Zuschauen viel Freude und erzeugt Spannung, denn auf der großen Bühne des Opernhauses gibt es viel zu entdecken und Eindrücke zu verarbeiten. Ausdrucksstarke und ästhetische Bilder werden heraufbeschworen, bevor der Abend mit einer mitreißenden Schlusssequenz endet.
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