Kultur
Nelken von Pina Bausch: Umjubelte Wiederaufnahme in Wuppertal
“Es gibt noch vieles zu entdecken“
(Quelle: Oliver Look)
GDN -
Vor vierzig Jahren übernahm Pina Bausch die Leitung des Tanztheaters in Wuppertal. Zu diesem Anlass werden im Verlauf der aktuellen Spielzeit nahezu alle Stücke von ihr zu sehen sein. Am vergangenen Wochenende wurde mit dem Stück “Nelken“ ein ereignisreiches Jahresende eingeläutet.
Ein Meer aus rosafarbenen Nelken bedeckt vollständig den Bühnenboden des Wuppertaler Opernhauses. Ein herrliches Bühnenbild, das die Zuschauer gleich beim Eintreten in den Saal augenscheinlich beeindruckt. Eine entrückte, märchenhafte Atmosphäre herrscht inmitten dieser Blütenpracht, als die Tänzer schweigend die Bühne betreten und dazu ein alter Schlager ertönt: “Schön ist die Welt, wenn das Glück dir ein Märchen erzählt.“ Zu Beginn des Stückes staksen die Tänzer noch ganz vorsichtig durch das Blumenmeer. Selbstverständlich möchte man solch glücksverheißende Umgebung nicht zerstören. Doch zwei Stunden später werden die Nelken dann doch zertrampelt auf den dunklen Bühnenbrettern liegen.
1982 wurde “Nelken“ an gleicher Stelle uraufgeführt, gefolgt von Überarbeitungen und weltweiten Gastspielen. Heute gilt das Stück als eines der großen Werke von Pina Bausch und als Klassiker des modernen Tanzes. In “Nelken“ geht es um die Liebe mit ihren verschiedenen Facetten, wie der großen Liebe, der ersten Liebe, der Liebe zum Tanz, dem Wunsch geliebt zu werden. Das Stück handelt von Sehnsüchten, Hoffnungen, aber auch von Demütigungen und seelische Grausamkeiten.
Fraglos ist “Nelken“ heute, nach mehr als 30 Jahren, kein umwälzendes Werk mehr, obwohl Pina Bausch selbst im Jahre 2005, als sie das Stück bei den Salzburger Festspielen aufführte, noch weitestgehend auf Unverständnis stieß. Die Zuschauer verließen den Saal und brachten ihren Unmut deutlich zum Ausdruck. Diese Gefahr bestand bei der jetzigen Wiederaufnahme in Wuppertal zu keinem Zeitpunkt. “Nelken“ verzaubert das, mit dem Tanztheater vertraute, Publikum von der ersten Minute an.
Die aktuelle Neueinstudierung findet erstmalig mit neuer Besetzung, und damit auch ohne die langjährigen Tänzer Dominique Mercy und Lutz Förster, statt. Letzterer wird für das Publikum wohl für immer eng verbunden bleiben mit der legendären Gebärdensprachszene. Scott Jennings ist die undankbare Aufgabe zugefallen, diese in der Neuauflage zu übernehmen. Absolut synchron zu den Klängen des Songs “The Man I love“, übersetzt er die gesungenen Worte in Gesten für Gehörlose. Auch das kann Tanz sein. Ein wundervoller Anblick voller Ästhetik und Melancholie.
Scott Jennings meistert die Aufgabe in vollkommener Perfektion, auch wenn er die Erinnerung an Lutz Förster sicherlich nicht gänzlich auslöschen kann, zumal das berührende und enorm eindringliche Solo auch einen, für Lutz Förster sehr persönlichen Hintergrund aufweist. Durch einen an Krebs verstorbenen Freund habe er dieses Lied, das bis heute eines seiner Lieblingslieder sei, kennengelernt. Zwei Jahre nach dessen Tod, sei er einem Gehörlosendolmetscher begegnet, den er darum bat, ihm das Lied beizubringen und als Pina eines Tages bei einer Probe die Tänzer fragte, worauf sie besonders stolz seien, führte Lutz Förster das einst Gelernte vor. Pina gefiel es und so gelangte die Szene in das Stück.
Scott Jennings verlässt bedächtig die Bühne, noch immer darum bemüht, keine der Nelken zu zertreten, als sich die heile Märchenwelt urplötzlich in eine Szenerie mit bedrohlicher Atmosphäre verwandelt. Wachtposten mit Hunden postieren sich um das Blütenfeld herum und ein Mann fordert die Tänzer mit autoritärem Tonfall auf, ihre Pässe zu zeigen. Kurz darauf befielt er einem der Tänzer gar, auf allen vieren zu laufen und zu bellen.
Eine Szene mit ebenfalls realem, diesmal schlicht erschreckendem, Hintergrund. Der polnische Schriftsteller Andrzej Szczypiorski berichtet in seinen Erinnerungen an die Zeit als Häftling im KZ, von genau diesen Praktiken, mit denen er gedemütigt wurde. Ein kleines Kind unweit meines Platzes lacht bei dem Anblick. Es hält das Geschehen für ein Spiel und ahnt zum Glück noch nicht, zu welcher Grausamkeit Menschen in der Lage sind. Wie so oft bei Pina Bausch, wechseln Gefühle und Atmosphären innerhalb von Sekundenbruchteilen. Humor wird zu Trauer, aus Idylle erwächst Bedrohung, aus Liebe entsteht Angst.
Ein Höhepunkt des Abends ist eine Sequenz, in der die Tänzer ein harmloses Kinderspiel darstellen. Michael Strecker steht, mit dem Gesicht zu Publikum, am Bühnenrand, zählt bis drei, während die übrigen Tänzer in seinem Rücken versuchen sollen, sich ihm, aus dem Bühnenhintergrund kommend, zu nähern. Wenn sich Strecker bei der Zahl “Drei“ umdreht, müssen - so die Spielregel - alle augenblicklich bewegungslos verharren. Wer sich dennoch rührt, wird zum Ausgangspunkt zurückgeschickt.
Hieraus entwickelt sich eine urkomische Szene, denn dieses harmlose Kinderspiel erwächst zu einer boshaften, ungerechten und allzu verbissenen Angelegenheit. Das wirkt in dem Zusammenhang und in der Art der Darstellung, im Rahmen eines Kinderspiels, das von Erwachsenen ausgeführt wird, überaus witzig. Doch worin unterscheidet sich dieses scheinbar kindische Verhalten eigentlich von dem Verhalten, das auch Erwachsenen oftmals, dann jedoch häufig mit dramatischerem Ausgang, in Streitsituationen zeigen?
Solch überraschende Verwirrspiele, schlagartige Wendungen und expressive Gefühlsdarstellungen, haben in den 1970er Jahren das Publikum noch tief verstört. Heute endet solch ein Abend, im ausverkauften Wuppertaler Opernhaus, mit Standing Ovations, Bravorufen und nicht enden wollendem Applaus, denn auch nach 30 Jahren kann “Nelken“ sein Publikum noch bezaubern.
Während der aktuellen Spielzeit würdigt das “Tanztheater Pina Bausch“, unter dem Titel “Pina40“, das epochale Lebenswerk der großen Künstlerin. Auch der November wird ganz im Zeichen von “Pina40“ stehen. Neben “Nelken“ werden mit “Wiesenland“, “1980“ und “Frühlingsopfer“ noch drei weitere Stücke in Wuppertal zu sehen sein. Darüber hinaus stehen Gastauftritte in Essen und Düsseldorf auf dem Programm.
Der genaue Spielplan ist unter www.pina40.de einsehbar.
Die bisherigen Aufführungen haben bewiesen, dass Pina Bausch noch immer fasziniert. Meine Wuppertaler Gastgeberin hat “Nelken“ vor einigen Tagen bereits zum Dritten mal gesehen und mit leuchtenden Augen festgestellt: “Jedes Mal fällt mir etwas anderes auf.“ In eine ähnliche Richtung zielt auch eine Bemerkung von Dominique Mercy, der neben anderen für die aktuellen Neueinstudierungen verantwortlich ist. Auf das Lebenswerk von Pina Bausch angesprochen, äußerte er im Anschluss an die Vorstellung: “Ich glaube es gibt da noch vieles zu entdecken.“
weitere Informationen: https://www.pina40.de
Für den Artikel ist der Verfasser verantwortlich, dem auch das Urheberrecht obliegt. Redaktionelle Inhalte von GDN können auf anderen Webseiten zitiert werden, wenn das Zitat maximal 5% des Gesamt-Textes ausmacht, als solches gekennzeichnet ist und die Quelle benannt (verlinkt) wird.