Auto/Motor
Critical Mass - Eine Bewegung setzt sich durch
Radfahrer zeigen sich im Straßenverkehr
Wir sind der Verkehr - Radfahren in der Stadt (Quelle: heldmann-images)
GDN -
Eine “kritische Masse“ ist die Menge eines Stoffs, der zu einer Reaktion führt. Mit der “Critical Mass“-Bewegung sorgen Radfahrer dafür, dass sie im Straßenverkehr sichtbar werden. Diese Aktionsform setzt sich auch in Deutschland immer mehr durch.
Radfahrer sind, allen Apellen von Verkehrsplanern und Politikern zum Trotz, in den meisten deutschen Großstädten benachteiligte Verkehrsteilnehmer. Es fehlen, gerade entlang zentraler Verkehrsverbindungen, häufig Radwege, stattdessen werden Radfahrer mit Fußgängern gemeinsam auf Gehwege verbannt. Bei innerstädtischen Durchschnittsgeschwindigkeiten von deutlich unter 30 km/h sind Radfahrer oft jedoch sogar flotter unterwegs als Autofahrer, auf Gehwegen sind daher Konflikte und gefährliche Situationen vorprogrammiert. Das gilt aber auch auf Straßen ohne Radwege. Denn obwohl der vermeintliche Zeitverlust sich meist im niedrigen Sekundenbereich bewegt, meinen viele Autofahrer, Radfahrer großzügig ignorieren zu können. Da wird riskant vorbeigefahren, Vorfahrt missachtet, noch schnell vor dem Rechtsabbiegen überholt usw. Erst vor wenigen Tagen wurde z.B. in Kassel unter einer alten Eisenbahnbrücke mit verschmälerten Fahrspuren eine Radfahrerin schwer verletzt, weil ein Autofahrer sie völlig sinnloser Weise - wenige Meter weiter verbreitert sich die Fahrbahn wieder - ausgerechnet dort überholen musste und dabei offenbar so knapp an ihr vorbeifuhr, dass sie nach einem “leichten Schlenker“ (Polizeimeldung) mit dem Auto kollidierte und stürzte.
Unbestritten sind es auch Radfahrer, die sich falsch und auch gefährlich verhalten. Gerade das Fahren auf nicht für den Radverkehr freigegebenen Gehwegen, womöglich auch noch als Geisterfahrer gegen die Fahrtrichtung oder das fahrende Überqueren von Straßen auf Fußgängerüberwegen gehört zum häufige zu beobachtenden Fehlverhalten. Aber Radfahrer gefährden sich mit diesem Verhalten in erster Linie selbst, denn sie haben nur ihren Körper als Knautschzone, sollte es zum Unfall kommen. Autofahrer sitzen hingegen relativ geschützt in ihren Fahrzeugen und fühlen sich scheinbar so sicher, dass sie auch schon mal an Engstellen frontal auf entgegenkommende Radfahrer draufhalten - sollen die doch bremsen.
Der Begriff der kritischen Masse entstammt der Physik, er umschreibt in der Kernphysik die für eine Kettenreaktion nötige Mindestmasse spaltbarer Stoffe. Inzwischen wird er auch in der Gruppendynamik verwendet. Er beschreibt die Anzahl Teilnehmer aus einer Gruppe, die erforderlich ist, einen sich selbst tragenden Prozess auszulösen, bei dem die anderen Gruppenangehörigen mitmachen, ohne unbedingt von Sinn und Zweck ihres Handelns überzeugt sein zu müssen, ja ihn vielleicht noch nicht einmal zu kennen. Als soziale Bewegung hat der Begriff eine etwas andere Konation. Denn hier wird die Masse bewusst und zielgerichtet eingesetzt, weil die Einzelnen wenig bis nichts bewegen können.
Mit den “Critical Mass“-Aktionen versuchen Radfahrer gleich zwei Dinge zu erreichen. Durch die große Zahl, die sich gemeinsam im Straßenverkehr bewegt, sind sie sichtbar und besser geschützt. Das ist das gleiche Prinzip, das Fischschwärme praktizieren, um Angreifern durch die schiere Masse weniger Chancen zu bieten, einzelne Opfer heraus zu fischen. Zugegeben, der Vergleich klingt etwas martialisch, denn die meisten Autofahrer legen es ja kaum darauf an, Radfahrer “zu erlegen“. Aber er trifft insofern zu, als dass die Masse einen Schutz bietet. Dass Gruppen von mehreren Hundert bis zu einigen tausenden Radfahrern im Straßenverkehr bei den dahinter “entschleunigten“ Autofahrern für wenig Freude sorgen, führt zum zweiten Anliegen: Es geht darum, Verantwortlichen klar zu machen, dass eine Entzerrung beider Verkehrsmittel zu einer “Win-Win“-Situation führt. Die Autos müssen nicht hinter Radfahrern her dümpeln und diese sind auf eigenen Radwegen schneller und sicherer unterwegs.
Diese Veranstaltungsform ist 1992 in San Francisco das erste Mal dokumentiert worden. In Deutschland hat sie vor allem in Hamburg schon eine Tradition, hier sind es bis zu 4500 Radfahrer gewesen, die sich zu einer Tour durch die Stadt getroffen haben. In Budapest sind sogar schon ca. 80.000 bei einer einzigen “Critical Mass“-Aktion gezählt worden. Das Besondere ist, dass es sich nicht etwa um eine Demonstration oder eine hierarchisch organisierte Form eines Protestes handelt. Vielmehr treffen sich die Beteiligten, etwa über Facebook oder andere sozialen Medien, informiert, zu einem bestimmten Zeitpunkt und fahren los. Es gibt keine Anführer, wer vorne fährt, entscheidet, wo es lang geht.
Dabei wird in Deutschland eine Vorschrift der Straßenverkehrsordnung genutzt. In § 27 ist das Fahren von Radfahrern im Verband geregelt. Ein solcher geschlossener Verband muss mindestens 15 Teilnehmer umfassen, eine Begrenzung nach oben gibt es nicht. Er wird verkehrsrechtlich wie ein Fahrzeug betrachtet. Ist also die Spitze bei grüner Ampel in die Kreuzung eingefahren, darf der gesamte Verband fahren, auch wenn die Ampel inzwischen auf Rot gewechselt hat. Und die Autofahrer, die inzwischen grünes Licht sehen, müssen warten, bis der gesamte Verband passiert hat. Außerdem dürfen die Radfahrer zu zweit nebeneinander fahren, also die gesamte Fahrspur nutzen.
Die Fotos zu diesem Beitrag stammen von einer “Critical Mass“-Aktion in Kassel.
Für den Artikel ist der Verfasser verantwortlich, dem auch das Urheberrecht obliegt. Redaktionelle Inhalte von GDN können auf anderen Webseiten zitiert werden, wenn das Zitat maximal 5% des Gesamt-Textes ausmacht, als solches gekennzeichnet ist und die Quelle benannt (verlinkt) wird.