Kultur
“Der gute Mensch von Sezuan“ am Staatstheater Braunschweig
Viele Fragen, wenig Antworten
(Quelle: Volker Beinhorn)
GDN -
Mit “Der gute Mensch von Sezuan“ (Bertolt Brecht) bringt das Staatstheater Braunschweig einen Klassiker und ein Musterbeispiel für das epische Lehrtheater auf die Bühne. Die von Brecht aufgeworfenen Fragen sind aktuell und berechtigt wie eh und je, jedoch scheinen die Antworten ebenso fern.
Zu swingenden Klängen betreten die Götter die Bühne des Braunschweiger Staatstheaters und streiten sich zunächst darum, wer von ihnen die Rolle der Shen Te, die Hauptrolle im gleich beginnenden Stück, übernehmen darf. Die Inszenierung beginnt mit einem Verfremdungseffekt und zerstört damit sogleich unmissverständlich die Illusion, das Theater sei das reale Leben. Zahlreiche derartige Mittel, wie sie Brecht einst bei der Entwicklung des epischen Theaters postuliert hat, werden im Verlaufe des Abends noch folgen.
Erst nach erfolgter Rollenverteilung legt der Wasserverkäufer Wang die Ausgangslage dar. Die Götter sind in die von Armut beherrschte Provinz Sezuan gekommen, um einen guten, gottesfürchtigen Menschen ausfindig zu machen. Wang ist bemüht eine Unterkunft für die Besucher zu finden, doch einzig in der Prostituierten Shen Te findet er eine großzügige Gastgeberin. Als die Götter am nächsten Morgen von Shen Tes misslicher materieller Lage erfahren, finanzieren sie ihr einen kleinen Tabakladen, mit dem sie in die Lage versetzt werden soll, sich eine gesicherte Existenz aufzubauen.
Doch es ist rasch erkennbar, dass Shen Tes Großzügigkeit, die sie jedem gegenüber zeigt, der sie um Hilfe bittet, sie mittelfristig in den sicheren Ruin treiben würde. Deshalb erfindet sie einen Vetter, in dessen Rolle sie schlüpft und der die unangenehme Aufgabe übernimmt Shen Te vor weiterem materiellen Schaden zu bewahren, indem er auch vor moralisch zweifelhaften Mitteln nicht zurückschreckt. Es wird deutlich, dass es in der bestehenden gesellschaftlichen Struktur nicht möglich ist, als moralisch-guter Mensch zu existieren, ohne sich auch eine geschäftstüchtige, mitleidslose Persönlichkeitsfacette anzueignen.
“Der gute Mensch von Sezuan“ wurde 1943 am Schauspielhaus Zürich uraufgeführt und gilt bis heute als ein Musterbeispiel für Brechts episches Lehrtheater. Nicht nur formal, auch inhaltlich kann die Handlung und die darin aufgeworfenen Fragen sowie die Thematisierung des Konfliktes von Moral und Überleben, als ein typisches Brechtwerk angesehen werden.
Brecht wollte das Stück ausdrücklich als Parabel verstanden wissen. So stehe der Handlungsort, die chinesische Provinz Sezuan, stellvertretend für alle Orte dieser Welt, an denen Menschen ausgebeutet würden.
Brecht wollte das Stück ausdrücklich als Parabel verstanden wissen. So stehe der Handlungsort, die chinesische Provinz Sezuan, stellvertretend für alle Orte dieser Welt, an denen Menschen ausgebeutet würden.
Mithilfe der postulierten Verfremdungseffekte verfolgt Brecht das Ziel, den Zuschauer dazu zu bewegen, das auf der Bühne Gesehene zu reflektieren. Zu diesen Mitteln zählen auch die konträren Handlungsebenen. Die Götterwelt, gedanklich weit entrückt von der realen Welt, nimmt die tatsächlichen Umstände, unter denen die Bewohner Sezuans leben, nicht wahr oder schätzt sie als irrelevant ein.
Auch bei den wiederholten Unterbrechungen der Handlung durch Zwischenspiele oder Lieder, handelt es sich um klassische Elemente des epischen Lehrtheaters. Ebenso soll der offene Ausgang des Stückes den Zuschauer zu eigenem Nachdenken und persönlichen Folgerungen veranlassen.
Auch bei den wiederholten Unterbrechungen der Handlung durch Zwischenspiele oder Lieder, handelt es sich um klassische Elemente des epischen Lehrtheaters. Ebenso soll der offene Ausgang des Stückes den Zuschauer zu eigenem Nachdenken und persönlichen Folgerungen veranlassen.
Michael Talke hat sich in seiner Braunschweiger Inszenierung all dieser Verfremdungseffekte bedient. Die von Brecht ausdrücklich vorgesehenen Verwandlungen der Schauspieler, die allesamt mehrere Figuren darstellen, erfolgt sichtbar für den Zuschauer, indem der jeweilige Kostümwechsel auf der Bühne stattfindet und auch die von Brecht gewünschte Verwendung von Masken, die beim Publikum für besondere Heiterkeit sorgen, findet umfangreich Berücksichtigung. Neben dem humoristischen Aspekt dienen die Masken aber, ganz im Sinne der Brechtschen Verfremdung, auch dazu, die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf die Situation und nicht auf die Individuen, die austauschbar sind, zu lenken.
Dass “Der gute Mensch von Sezuan“, auch 70 Jahre nach seiner Entstehung, noch immer auf deutschen wie internationalen Theaterspielplänen steht, hat zweifellos seine Berechtigung, denn auch der heutigen Gesellschaft hält das Stück schonungslos den Spiegel vor. In unserem turbokapitalistischen Wirtschaftssystem, mit zunehmend ungleicher Wohlstandsverteilung und angesichts der immer undurchschaubarer werdenden weltweiten Konflikte, scheint die Unterscheidung zwischen moralisch Gutem und Schlechtem zunehmend gestört, sodass sich der Begriff “Gutmensch“, der jemanden charakterisiert, der sich für soziale Belange engagiert und für Toleranz, Gleichberechtigung, Teilhabe und Milde eintritt, mittlerweile gar zu einem Schimpfwort gewandelt hat.
Die realitätsfernen Götter, die das herrschende Elend nicht wahrnehmen wollen, die die Braunschweiger Bühne in einem kräftigen Rosa erscheinen lassen oder die Armut durch einen goldenen Glitzervorhang verdecken, scheinen uns noch immer zu besuchen, so erschreckend erinnern die Aussagen mancher Politiker oder Unternehmer, im Zusammenhang mit der herrschenden sozialen Ungerechtigkeit im Land, an jene realitätsfernen Wesen auf der Bühne.
Der mit viel politischem Einsatz geschönte Armutsbericht der Bundesregierung vom März 2013 gibt an, dass 1970 10% der Westdeutschen über 44% des gesamten Nettovermögens verfügten. Im Jahre 2011 besaß das obere Zehntel dann sogar bereits 66% des Gesamtvermögens. Die Ungerechtigkeit nimmt messbar und rapide zu. Die Zahlen lassen an Eindeutigkeit kaum zu wünschen übrig und wurden dennoch von Bundestagsabgeordneten mit Aussagen wie “Es gibt in Deutschland eine Zunahme an Armutsberichten, aber keine Zunahme an Armut“ (Martin Lindner) oder “Die ganze Debatte wird ohnehin zu sehr mit Blick auf lediglich materielle Faktoren geführt“ (Dr. Matthias Zimmer) kommentiert.
Brecht stellt demnach auch noch heute wichtige und richtige Fragen, doch seine Herangehensweise, den Zuschauer seiner Stücke zur Reflexion anzuregen und somit zu einer Veränderung des eigenen Verhaltens zu bewegen, bleibt fraglich.
Die Regeln des Zusammenlebens und ihre Sinngebungen, kulturelle Bindungen, Verhaltensanforderungen und -erwartungen erweisen sich gerade deshalb als so unumstößlich, weil sie eben nicht bewusst reflektiert werden. Eine diesbezügliche Veränderung herbeizuführen und dabei ganz auf die kognitive Ebene und Vernunft zu setzten erscheint zweifelhaft.
Die Regeln des Zusammenlebens und ihre Sinngebungen, kulturelle Bindungen, Verhaltensanforderungen und -erwartungen erweisen sich gerade deshalb als so unumstößlich, weil sie eben nicht bewusst reflektiert werden. Eine diesbezügliche Veränderung herbeizuführen und dabei ganz auf die kognitive Ebene und Vernunft zu setzten erscheint zweifelhaft.
Da menschliches Verhalten eher in Ausnahmefällen rational gesteuert ist, bleibt es fraglich, wie dieses durch Einsicht grundlegend zu verändern sein könnte. Wenn angesichts von Ressourcenknappheit und Verteilungskämpfen die Kanzlerin schlussfolgert “Ohne Wachstum ist alles nichts“, dann steckt dahinter ein offenkundig tief verwurzelter Glaubenssatz, der in eine geradezu groteske Denkform mündet. Ist es tatsächlich erfolgsversprechend an dieser Stelle auf der kognitiven oder moralischen Ebene eine Denk- und Verhaltensveränderung auszulösen?
Die Hoffnung auf die, auf Einsicht beruhende, Veränderung der Welt, wie sie die Aufklärung postuliert und Brecht erhofft hat, erscheint ausgesprochen unrealistisch.
Die Hoffnung auf die, auf Einsicht beruhende, Veränderung der Welt, wie sie die Aufklärung postuliert und Brecht erhofft hat, erscheint ausgesprochen unrealistisch.
Folgerichtig endet die Braunschweiger Inszenierung auch nicht mit dem berühmten Prolog, in dem der Theaterzuschauer direkt angesprochen und aufgefordert wird, sich für eine neue Welt einzusetzen, in der es möglich ist, gut zu sein. (“Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluss! Es muss ein guter da sein, muss, muss, muss!“).
Stattdessen werden, im Rückgriff auf die Eröffnungsszene, die Rollen der Schauspieler aufs Neue vergeben und die Handlung beginnt erneut. Die erhoffte Veränderung ist ausgeblieben.
Für den Artikel ist der Verfasser verantwortlich, dem auch das Urheberrecht obliegt. Redaktionelle Inhalte von GDN können auf anderen Webseiten zitiert werden, wenn das Zitat maximal 5% des Gesamt-Textes ausmacht, als solches gekennzeichnet ist und die Quelle benannt (verlinkt) wird.