Kultur
“Tyrannis“ (Ersan Mondtag) am Staatstheater Kassel
Detailreich, verwirrend, polarisierend
(Quelle: N.Klinger)
Es ist Nacht. Inmitten eines dichten Waldes trägt der Wind die entfernten Rufe einiger Raben hinüber zu einem abgeschiedenen Haus. Der Ort der Handlung könnte ebenso einem Märchen der Gebrüder Grimm, die viele Jahre in Kassel gelebt haben, entnommen sein wie auch die Raben, die - vermutlich aufgrund ihrer Lernfähigkeit und ihrer Intelligenz - seit jeher in Sagen, Märchen sowie im Aberglauben eine Rolle spielen.
Hierbei nehmen die Vögel sowohl die Rolle der Unglücksboten als auch die der Helfer, die verirrte Wanderer zurück auf den richtigen Weg führen, ein. Verheißen die Raben in dieser Nacht Unheil, wie die menschlichen Schreie, die ebenfalls in der Ferne zu hören sind, erahnen lassen? Womöglich weisen sie aber auch einem Schutzsuchenden, der sich vor der heraneilenden Hundemeute in Sicherheit bringen will, den Weg durch den dichten Birkenwald.
Als der Tag heranbricht erwachen nach und nach die Bewohner des entlegenen Hauses, in dem eine Familie, bestehend aus Vater, Mutter, Sohn, Tochter und einer Tante, wohnt. Diese lebt offenbar in einem System andauernder Selbstüberwachung, denn jedes Zimmer des Hauses ist mit einer Kamera bestückt, deren Bilder live auf Leinwände übertragen werden, womit sämtliche Handlungen, wie intim oder banal sie auch sein mögen, jedes morgendliche Ritual und jede Tätigkeit den anderen Familienmitgliedern offenbart wird.
Auch die Zuschauer im Kasseler tif (Theater im Fridericianum) können auf drei Bildschirmen die Geschehnisse im oberen Stockwerk des Hauses, in dem die Schlafzimmer fast (!) aller Familienmitglieder untergebracht sind, verfolgen. Die Ausmaße sowie die Gestaltung der Räume verrät einiges über die Persönlichkeit des jeweiligen Bewohners sowie dessen Stellung innerhalb der Familienstruktur.
Die Filmaufnahmen wurden in der Probephase vorproduziert, wobei die Schauspieler des Ensembles über zwei Wochen die Kulissen selbst gebaut, die Zimmer eingerichtet und mit Kameras ausgestattet haben. Auch für die Fertigung der Videos zeichnet einer der Schauspieler, Jonas Grundner-Culemann, verantwortlich. Das Ergebnis fügt sich perfekt in die “reale“ Handlung auf der Bühne ein.
Doch wirklich “real“ erscheinen auch die live agierenden Personen nicht. Wie Marionetten bewegen sich die extrem in sich gekehrten Familienmitglieder durch die Zimmer und Flure ihres Hauses - Gewohnheiten scheinen die Fäden zu halten. Sämtliche alltäglichen Handlungsabläufe sind exakt getaktet und aufeinander abgestimmt.
Doch wirklich “real“ erscheinen auch die live agierenden Personen nicht. Wie Marionetten bewegen sich die extrem in sich gekehrten Familienmitglieder durch die Zimmer und Flure ihres Hauses - Gewohnheiten scheinen die Fäden zu halten. Sämtliche alltäglichen Handlungsabläufe sind exakt getaktet und aufeinander abgestimmt.
Wie Zahnräder greifen die einzelnen Aktivitäten ineinander und sorgen für einen reibungslosen Tagesablauf, in dem Absprachen nicht mehr nötig sind, eigene Positionen und Wortäußerungen das Miteinander gefährden könnten und für Spontanität und Fantasie kein Raum mehr bleibt. Der Haushalt scheint ein perfektes, abgeschlossenes System zu sein. Impulse von außen, wie die immer wieder auftauchenden Schreie aus der Ferne, blendet die Familie vollständig aus.
Die Familie, die der Zuschauer in dem Stück kennenlernt, hat durch ihre bewährten Gewohnheiten, die totale Kontrolle über ihr Dasein erlangt, bis dann doch etwas Unvorhergesehenes und bis dahin Unvorstellbares geschieht. Von außen dringt eine fremde Person, jemand der vorher nicht da war, in ihr geschlossenes System ein, mit der Folge, dass die Rituale ins Wanken geraten.
Jetzt wird spätestes deutlich, dass die Familienmitglieder zwar sämtliche ihrer Aktivitäten per Kamera festhalten, sie aber trotz weit aufgerissener Augen das wirkliche Hinschauen und Wahrnehmen verlernt haben. Jetzt, wo ein Minimum an Fantasie, Flexibilität und Verständigung von Nöten wäre, gerät die Familie in einen Schockzustand, handelt irrational und das ausgeklügelte System bricht förmlich in sich zusammen.
Wir müssen “uns öffnen, obwohl und gerade weil alles nach Abschottung schreit. Wir müssen raus aus unseren komfortablen, geschlossenen Zirkeln der Selbstvergewisserung, mitten hinein in das Risiko der Begegnung mit dem ´Anderen´“, schrieb kürzlich treffend die Kolumnistin Ruth Kinet mit Blick auf die derzeitige Flüchtlingssituation in Europa. Auch wenn die Familie und deren Verhaltensweisen auf der Bühne in Kassel bis ins Groteske überspitzt sind, die Parallelen zu manch einer unserer derzeitigen gesellschaftlichen Entwicklungen sind unübersehbar.
Bei Social Media Plattformen verbinden wir uns durch ein simples “like“ mit Menschen, die das Gleiche mögen wie wir selbst und mit denen wir möglichst ähnliche Erfahrungen teilen. Per Mausklick sind wir in der Lage, ausschließlich derartige Informationen zu erhalten, die wir sehen wollen. Alles andere wird im wahrsten Sinne des Wortes ausgeblendet. Das macht das Leben überschaubar, sicher und bequem. Doch wie sehr wir durch eine solche Haltung verlernen, reale und irrationale Angst zu unterscheiden, ist derzeit täglich zu beobachten.
Ersan Mondtag, verantwortlich für die Konzeption und die Inszenierung von “Tyrannis“, spricht nicht von einem “Stück“, sondern von einer “Stückentwicklung“. Mit der Idee einer Familie, die abgeschottet von der Außenwelt lebt, kam er nach Kassel, entwickelte diese Grundkonstellation mit dem Dramaturg Thomaspeter Goergen weiter und bezog schließlich auch das Ensemble, das dazu aufgefordert war, eigene Gedanken in die Arbeit einfließen zu lassen, in die Entwicklung der Produktion ein.
“Ersan Mondtag beweist, dass er von einer überwältigenden visuellen Fantasie angetrieben wird“, schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung über den jungen Regisseur. Eine Selbstbeschreibung seiner Arbeitsweise scheint dies zu bestätigen. “Für mich ist ein Requisit genauso viel Wert wie ein Schauspieler. Alles was auf der Bühne steht, egal ob Mensch, Körper, Objekt, ist wichtig, egal ob Tänzer, Schauspieler, Musiker.“
Bei der Kasseler Uraufführung ist Mondtag nicht nur für die Inszenierung, sondern auch für das Bühnenbild und den Entwurf der Kostüme verantwortlich. Und es ist großartig, was er visuell auf die vergleichsweise kleine tif-Bühne bringt. Ein komplettes Haus mit detailreichem Wohnraum, funktionsfähiger Küche, einer gemütliche Sofaecke, Esstisch, Klavier und einem Weihnachtsbaum wurde nachgebildet. Türen führen in das Badezimmer und in eine Abstellkammer, der im Verlauf des Stückes eine zentrale Bedeutung zukommt, sowie in die obere Etage. Die gläserne Verandatür eröffnet einen Blick in einen dichten Birkenwald.
All dies wirkt cineastisch - ein Eindruck, der durch eine exzellente Lichtregie (Christian Franzen) sowie ein detailreiches, raffiniertes Sounddesign (Max Andrzejeweski) noch verstärkt wird. Besonders hervorzuheben ist das Können der beiden Maskenbildnerinnen Jessica Gröninger und Anja Schweinehagen, die bei dieser Produktion eine glänzende Arbeit leisten.
Die Darsteller, die diese Familie, der sowohl die Sprache verloren gegangen ist als auch der lebendige Blick, verkörpern, vollbringen eine bravouröse Leistung. Obwohl sie der klassischen Ausdrucksmittel eines Schauspielers, der Sprache sowie auch weitestgehend der Mimik, beraubt sind, gelingt es ihnen dennoch, ihren Figuren Ausdruck zu verleihen. Zudem agieren sie das gesamte Stück über blind, denn ihre starren Pupillen sind auf die geschlossenen Augenlider gemalt. Das Ensemble ist daher geradezu gezwungen genauso exakt und ritualisiert zu agieren, wie es dem Alltag der dargestellten Familie entspricht.
Visuell und hinsichtlich der Ensembleleistung weiß diese Produktion zu beeindrucken, darüber hinaus wird sie zweifellos polarisieren, wie man bereits den spontanen Publikumsreaktionen beim Verlassen des Theaters entnehmen konnte. “Ich bin total enttäuscht.“ “Ein tolles Stück.“ “Gähnend langweilig.“ “Das beste Stück, das ich bisher in Kassel gesehen habe.“ “Ich war froh als es endlich vorbei war.“ “Ich fand es wahnsinnig beeindruckend.“.
Anhand einiger Reaktionen im Publikum war ablesbar, dass das Stück mit über zwei Stunden Spielzeit, während der auf der Bühne nichts Temporeiches geschieht, zudem nicht gesprochen wird und angesichts der nicht eben luxuriösen Sitze des Theaters im Fridericianum, von vielen Zuschauer als zu lang empfunden wurde.
“Tyrannis“ ist ein Stück, das man sicherlich nicht unbedingt Theateranfängern anempfehlen würde, wohl aber jemandem, der offen ist für Ungewöhnliches und sich auf einen Abend einlassen kann, der von der gewohnten Theaterform abweicht. “Tyrannis“ ist ein Stück, das nachwirkt, das einem im Gedächtnis bleibt und das verwirrt, was nicht unbedingt die wertloseste Empfindung während eines Theaterbesuches ist.
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