Kultur

Ein politisches Foto-Dokumentations-Projekt

Die Künstlerin Anja Jensen in Mexiko


Anja Jensen, Mexico Policia, 2015 (Quelle: (c) Anja Jensen)
Anja Jensen, Mexiko City, 2016
(Quelle: (c) Anja Jensen)
GDN - Auf Einladung des Auswärtigen Amts der Bundesrepublik Deutschland realisiert die Künstlerin Anja Jensen aus Hamburg im Rahmen des Deutschlandjahrs in Mexiko 2016-2016 ein mehrteiliges politisches Foto-Dokumentations-Projekt in Mexiko City.
“Es gibt keinen Menschen in Tepito, der nicht mit Gewalt konfrontiert ist“, beschreibt die Künstlerin Anja Jensen die Lebenssituation der Bewohner des 120.000 Menschen zählenden Stadtteils von Mexiko City, der aus nur 72 Häuserblöcken besteht. Traurige Berühmtheit erlangte er durch Kriminalität, Drogenhandel und Raubkopien. Anja Jensen gehört zu den wenigen Fotografen, denen ein Seiteneinstieg in das Milieu gelang. “Mexiko City ist eine Stadt, in der man alles haben kann: Viele der US-amerikanischen Kinofilme kann man hier schon Monate vor dem offiziellen Start sehen. Tepito ist eine Hochburg der Produktpiraterie und der Plagiate.“, schildert sie ihre Erfahrungen während Gast-Aufenthalts im Rahmen des Deutschlandjahrs 2016-2017 in Mexiko.
Die Einladung durch das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland und die unterstützende Koordination des Goethe-Instituts Mexiko öffnet Anja Jensen Türen, die anderen Künstlern vor ihr verschlossen blieben. Das Deutschlandjahr schafft Publizität in Mexiko. Und die braucht gerade Tepito, das lebt, weil es sich gegen die Stigmatisierung seit langem durch eine engagierte Bürgerbewegung wehrt: “Tepito existe porque resiste“, berichtet die in Hamburg lebende Künstlerin.
Unter dem Schutz “siete cabronas“ bewegt sich Anja Jensen des Nachts durch die Straßen des gefährlichen Barrios und unterstützt die “Sieben starken Frauen“ in ihrem Kampf gegen Gewalt, Kriminalität und systematische Stigmatisierungen in Tepito. Anja Jensen ist bekannt für ihre verrätselten Inszenierungen, die das flirrende Unbehagen fotografisch dokumentieren. Im Herzen der 21-Millionen-Metropolregion findet die Künstlerin jene ambivalenten Biografien, die sie zu fotografischen Storyboards von hoher Eindringlichkeit zu verdichten in der Lage ist. Für aufwendige Inszenierungen sei hier oft keine Zeit, berichtet die Künstlerin, die in Begleitung ihres vierköpfigen Teams auf einem der Streifzüge überfallen und bedroht wurde.
Anja Jensen, Lara, 2007
Quelle: (c) Anja Jensen
“Die “šCultural Mappings“˜ der 49-Jährigen sind technisch anspruchsvoll und politisch brisant. Vielleicht auch letztendlich in der der Nachfolge der Altmeister des “Dokumentarischen Stils“ entsteht derzeit ein über tausend Bilder umfassendes Fotoprojekt, das über die Inszenierungen des Frühwerks der Künstlerin weit hinausreicht.“, erklärt die Kunsthistorikerin und Kuratorin Verena Voigt. Im Rahmen des Deutschlandjahrs in Mexiko wird es im Deutschen Pavillon im Künstlerviertel Roma präsentiert.
Eines der fünf Fotoprojekte ist daher auch den “siete cabronas“ und ihren Lieblingsorten gewidmet. Es zeigt die eigenwillige Revolte gegen ein Schicksal, das nicht länger unabwendbar sein soll, berichtet die Künstlerin. Ein Thema wird auch die “Santa Muerte“-Verehrung sein. Bis 1997 war die Anrufung der lebensgroßen Schutzpatrone mit Totenkopf und weiblicher Perücke nur im Privaten möglich. Bis sich eine der “siete cabronas“ traute, einen inoffiziellen, aber öffentlichen Pilgerort einzurichten, der seither einmal im Monat wie ein Wallfahrtsort besucht wird.
In dem Projekt “Gated“ führt Jensen ihre Dokumentation der “Gated Communities“ fort, an der sie seit 2006 an verschiedenen Standorten gearbeitet hat. “In Mexiko City, der Stadt, in der die Themen “Sicherheit“ und “Überwachung“ zur Überlebensstrategie gehören“, so die Künstlerin, “findet sich neues Material. Überraschend, wie Trauma-Bewältigung funktionieren kann: Kakteen statt Stacheldraht vor roten Mauern erhalten plötzlich ästhetische Qualität, ohne die Abschreckung zu verlieren. Oder Ixtapaluca, 30 südöstlich von Mexiko City (CDMX), wo die 50.000 nach demselben architektonischen Muster vor zehn Jahren gebauten Wohnblöcke erst nach tagelangem Suchen wieder auffindbar sind, weil sie in eine individualisierte wilde Stadt verwandelt haben
In enger Kooperation mit dem Goethe-Institut erstellt Anja Jensen mit neun Schulen Fototagebücher, die die Lebensumstände der Jugendlichen reflektieren und dokumentieren. Im Zentrum dieses Projekts steht die Sensibilisierung der Jugendlichen für ihre Lebenswelt sowie die Dinge, von denen sie im städtischen Raum umgeben sind. Die Ausstellung “Visto Bueno“ dokumentiert die Arbeit mit den Schülern und zeichnet die vielfältigen Perspektiven auf CDMX aus der Sicht der heranwachsenden Generation nach. Mexiko City erhält damit ein Forum für ein geradezu enzyklopädisches Statement zur Zukunft der Stadt - aus Sicht derjenigen, die sie bald gestalten werden.
Das Deutschlandjahr 2016-2017 in Mexiko beginnt offiziell am 6. Juni. Vertreten sind u.a. auch Candida Höfer, Michael Wesely, Hans Peter Kuhn, Gregor Schneider und Sigmar Polke. Mit einer Vielzahl von Projekten aus unterschiedlichen Kunstsparten sollen neue Impulse für die vielfältigen Beziehungen in Politik, Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft gegeben. Das Deutschlandjahr in Mexiko ist ein hochrangiges politisches wie gesellschaftliches Kooperationsprojekt. Das Goethe-Institut Mexiko ist Projektleiter und Koordinator und ermöglicht in diesem Rahmen deutschen Künstlerinnen und Künstlern, aufwendige Feldstudien und Research-Projekte mit Bezug zu sensiblen Themenfeldern.
Anja Jensen (geb. 1966) studierte u.a. an der Kunstakademie Münster bei Ulrich Erben (Meisterschülerin). Ihre Arbeiten wurden in internationalen Kontexten und Ausstellungsprojekten gezeigt, u.a. im Museo de Arte Contemporanéo MAC, Santiago de Chile (EA,2008), in der Kunsthalle Münster (2012); im Kunstmuseum Wuhan, China (2009); im Ludwig Forum für Internationale Kunst, Aachen (2008); im Kunstmuseum Bochum (2008); im Santralistanbul, Istanbul (2008); im Zhu Qizhan Art Museum Shanghai, China (2007); im Culture and Arts Center; Incheon, Südkorea (2007), im Martin-Gropius-Bau Berlin (2005) und im Museum Kunst der Westküste, Alkersum (EA, 2012).
Anja Jensen, Porträt
Quelle: (c) Anja Jensen
Anja Jensen war in zahlreichen Einzelpräsentationen u.a. in den “the solo project - contemporary art fair“ Basel (2011, EA), der Art Cologne Förderkoje (2008, EA), dem Photo-Festival in Köln (2014, EA) sowie in Prag, Brünn, Budweis (2010) und Krakau (2007). Für ihr künstlerisches wie fotografisches Schaffen erhielt Anja Jensen zahlreiche Preise und Stipendien, darunter das alle acht Jahre an Fotografen vergebene “Märkische Stipendium für Fotografie“ (2006). 2013 erschien im Kehrer-Verlag die Publikation “Tatort“.
Für den Artikel ist der Verfasser verantwortlich, dem auch das Urheberrecht obliegt. Redaktionelle Inhalte von GDN können auf anderen Webseiten zitiert werden, wenn das Zitat maximal 5% des Gesamt-Textes ausmacht, als solches gekennzeichnet ist und die Quelle benannt (verlinkt) wird.