Kultur
“Ein Volksfeind“ (Henrik Ibsen) am Staatstheater Kassel
Die Allgemeinheit will keine neuen Ideen
(Quelle: N.Klinger)
GDN -
Mit “Ein Volksfeind“ bietet das Staatstheater Kassel derzeit einen überaus politischen Abend, der die Frage nach der Zweckmäßigkeit von Demokratie stellt. Eine aufwendige Inszenierung sowie ein hervorragendes Ensemble, mit einem herausragenden Bernd Hölscher, begeistern das Kasseler Publikum.
Ein bunter Wasserball gleitet sanft über eine ebenmäßige Wasseroberfläche. Kurz darauf tauchen zwei Kinder, gefolgt von einigen Erwachsenen, auf, um gemeinsam die entspannende Abkühlung zu genießen. Die Welt ist augenscheinlich in Ordnung in diesem norwegischen Kurbad. Das Heilwasser spült zahlungskräftige Touristen an und hat den Wohlstand in den kleinen Ort einziehen lassen.
Doch der Arzt Dr. Tomas Stockmann könnte die herrschende Idylle empfindlich stören, denn er enthüllt eine Verseuchung des Wassers durch Mikroorganismen. Leidenschaftlich beginnt er, seiner Umwelt diese folgenreiche Kenntnis mitzuteilen und Verbündete um sich zu scharen, um auf die gesundheitlichen Gefahren, denen die Badegäste ausgesetzt sind, hinzuweisen. Auch wenn seine Enthüllungen teure Sanierungsmaßnahmen zur Folge haben würden, weiß er doch “die kompakte Majorität“ hinter sich.
Der Autor, Henrik Johan Ibsen (1828 - 1906), begann sich seit den 1870er Jahren mit seinen Texten verstärkt gesellschaftlichen Fragen zuzuwenden und rückte das Individuum, das er zunehmend feiner psychologisch ausgestaltete, in das Zentrum seiner Stücke. “Ein Volksfeind“ wurde 1883 in Oslo uraufgeführt. Das Werk entstand als eine Reaktion auf die Kritik, die Ibsens vorangegangene Stücke ernteten, denn da sich der Autor in diesen gegen herrschende Konventionen wandte, galten sie seinerzeit als skandalös.
Einen Skandal stellen auch die weiteren Geschehnisse in dem norwegischen Heilbad dar. Da die notwendigen Sanierungsarbeiten nur schwer finanzierbar sind und zwangsläufig erhebliche Steuererhöhungen die Folge wären, wird die Tatsache, dass das Wasser verseucht ist, kurzerhand zur Unwahrheit erklärt und Dr. Stockmann sieht sich schlagartig einer Welt gegenüber, in der jeder, wie rebellisch er sich auch anfänglich gegeben haben mag, seine eigenen Interessen verfolgt.
In der Folge seines leidenschaftlichen Kampfes gegen Irrationalität, Lügen und Korruption verliert Stockmann zusehends den realistischen Blick auf seine Umgebung und durchschaut zunehmend weniger, welche Absichten diese verfolgt. Letztlich behält sein Widersacher, sein Bruder Peter, der das Amt des Bürgermeisters in dem Kurbad bekleidet, Recht: “Die Allgemeinheit will keine neuen Ideen, sondern Arbeitsplätze.“
Stockmanns Zuversicht schlägt in ihr Gegenteil um und er erkennt in der Majorität, die er anfänglich auf seiner Seite sah, den “Feind der Freiheit“, denn die Menschen “urteilen wie blinde Maulwürfe“ und “die Mehrheit hat nicht das Recht auf ihrer Seite.“ Der anschwellende Konflikt gipfelt in einer Volksversammlung, bei der das Publikum direkt angesprochen wird und die ohnehin greifbare Aktualität der Handlung unmittelbar wird.
Das Publikum im vierten Akt des Stückes einzubeziehen und beim Zuschauer somit eine Positionierung zu provozieren ist ein hervorragender Einfall der äußerst aufwendigen Inszenierung.
Daniel Roskamp hat ein Bühnenbild entwickelt, das unter den Zuschauern bereits beim Betreten des Theatersaales für Getuschel und anerkennende Bemerkungen sorgt. Das Thema “Wasser“ scheint allgegenwärtig. Der Bühnenboden ist vollständig mit Wasser, in dem die Schauspieler liegen, plantschen, sich belauern oder körperlich attackieren, bedeckt, Wasserflaschen hängen an den Wänden und Unmengen an Mineralwasserkisten sind über den Bühnenboden verteilt.
Zwischen einzelnen Szenen sind auf einer Leinwand atmosphärische, geräuschlose Filmaufnahmen zu sehen, in denen die Protagonisten unter der Wasseroberfläche sanft dahingleiten, angespannt strampeln, nach Luft ringen oder sich umkreisen wie Haie. Diese ruhigen Momente bilden einen angenehmen Kontrast zum äußerst lauten Geschehen auf der Bühne. Oskar Bosman zeichnet sowohl für die Unterwasserkamera als auch für das Licht auf der Bühne, mit dem er eindrucksvolle Bilder entstehen lässt, verantwortlich. Vor den Augen des Publikums verwandelt sich die Wasserfläche vom sonnendurchfluteten Swimmingpool zu einem moderigen Tümpel.
Die gesamte Inszenierung ist äußerst aufwendig, technisch anspruchsvoll, visuell eindrucksvoll und manchmal an der Grenze dazu, “zu viel“ zu wollen. Doch dank des guten Ensembles sowie der klugen Rollenbesetzung geraten die Geschichte und deren interessante Figuren nicht in den Hintergrund.
Herauszuheben ist zweifellos Bernd Hölscher (Dr. Tomas Stockmann), der mit seiner explosiven Darstellung und beeindruckenden Präsenz sicherlich viele Zuschauer in Kassel an seine großartige Darstellung des Woyzecks vor einigen Jahren erinnert, mehrfach Szenenapplaus erhält und schließlich mit Standing Ovations gefeiert wird.
Herauszuheben ist zweifellos Bernd Hölscher (Dr. Tomas Stockmann), der mit seiner explosiven Darstellung und beeindruckenden Präsenz sicherlich viele Zuschauer in Kassel an seine großartige Darstellung des Woyzecks vor einigen Jahren erinnert, mehrfach Szenenapplaus erhält und schließlich mit Standing Ovations gefeiert wird.
Doch auch das weitere Ensemble verdient Respekt, denn die Besetzung ist bis in die kleinste Nebenrolle äußerst gelungen. Christina Weiser stellt als Stockmanns Ehefrau Katrin in vielerlei Hinsicht einen Gegenpart zu Hölschers expressivem Spiel dar. Mit feinen Nuancen verkörpert sie die Zerrissenheit ihrer Figur, die zwar loyal hinter ihrem Mann steht, jedoch wesentlich pragmatischer denkt und dessen Verantwortung gegenüber der Familie einfordert, dar.
Enrique Keil (Peter Stockmann, der Bruder des Doktors und Bürgermeister des Kurortes) stellt seine Figur überzeugend kaltblütig dar. Der pragmatische Bürgermeister verfolgt stets, mal drohend mal kühl lächelnd, konsequent und unbeirrt seine Ziele. Sein Denken und Handeln folgt hierarchischen Prinzipien. Er fühlt sich aufgrund seiner Position überlegen, gegenüber den Bürgern seiner Stadt, nicht den Besuchern von außerhalb, verantwortlich und im Gegensatz zu seinem idealistischen Bruder weiß er, dass die Mehrheit “ein überaus variables Ding“ ist.
Am Ende herrscht auf der Bühne Chaos. Der Kontrast zum Anfangsbild, als der bunte Plastikwasserball ruhig über die Wasseroberfläche glitt, könnte kaum größer sein. Vieles wurde zerstört in den vergangenen beiden Stunden. Nicht nur die Wasserqualität ist ruiniert, sondern zwischenmenschliche Beziehungen, das Gefühlsleben, Ansehen und die Karriere von Personen sind in Mitleidenschaft gezogen worden und das Vertrauen - sowohl zu einzelnen Mitmenschen als auch zu der “kompakten Majorität“ - ist zerrüttet.
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